Die Saat für Veränderung ist gelegt

Mutige Frauen verändern Indiens patriarchalische Gesellschaft und Unternehmenskultur. Eine davon ist die Deutsch-Inderin Theresa Moozhiyil, die – inspiriert durch ihre Eltern – auf dem Subkontinent seit fast 30 Jahren ganz eigene Spuren hinterlässt. Ihre Biografie ist deshalb mehr als einen Blick wert.

Es heißt, dass jeder Mensch geboren wird, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Meine wurde mir sehr früh im Leben klar – Widerstand gegen alles, was Frauen in traditionellen Gesellschaften durch lebensferne Normen auferlegt wird.

Alles begann im Jahr 1989. Damals beschlossen meine Eltern, Deutschland, das zwei Jahrzehnte unser Zuhause gewesen war, mit uns Kindern im Schlepptau zu verlassen und in die alte Heimat zurückzukehren: in den südwestindischen Bundesstaat Kerala. Das Leben in Deutschland hatte meine Eltern stark geprägt, und sie wollten ihrem Heimatland etwas von ihren Erfahrungen zurückgeben. Sie brachten also einen ganzen Koffer voller Ideen mit, die sie umsetzen wollten. Meinen Mut habe ich definitiv ihnen zu verdanken. Bis heute setzen sich meine Eltern für ihre vielen gesellschaftlichen Ideen ein, zum Beispiel für Arbeit und Ausbildung für alle oder die Gleichheit der Geschlechter und Kasten. Und ich führe ihre Mission fort.

Stereotypen überwinden

Bevor ich näher auf mein Leben eingehe, ist es wichtig, auf die vielen Hindernisse hinzuweisen, die man Frauen in den ländlichen Gebieten Indiens tagtäglich in den Weg legt. Ihre persönliche Meinung gilt quasi nichts. Außer in Bundesstaaten mit hoher Alphabetisierungsrate – wie demjenigen, aus dem ich komme – ist die Tötungsrate an Mädchen und Frauen alarmierend hoch. Die mangelhaften Bildungsmöglichkeiten und die schlechten sanitären Verhältnisse für Frauen sind schockierend. Es gibt praktisch keine Konzepte für die Gleichberechtigung der Geschlechter. Alles, was eine Frau trägt, sagt, denkt oder tut, wird von den herrschenden Mächten geregelt und muss von ihnen abgesegnet werden. Das beginnt schon bei der Geburt eines Mädchens, die als Enttäuschung betrachtet wird, und setzt sich in unzähligen traditionellen gesellschaftlichen Rollen und Normen fort. Ich erinnere mich noch gut an die Geburt meines Bruders. Die Dorfbewohner gratulierten meinen Eltern zu ihrer Überraschung dazu, dass sie endlich ein „Kind“ bekommen hätten.

Schon als Mädchen zogen meine Schwester und ich uns beispielsweise die Missbilligung der Leute zu, weil wir es wagten, uns außerhalb des Hauses ohne Goldschmuck zu bewegen. Für uns war diese Regel bizarr, aber ein Mädchen wurde als wertlos angesehen, wenn es sich außerhalb der eigenen vier Wände ohne Goldgehänge zeigte. Es signalisierte eine Herkunft aus armen Verhältnissen und dass die Eltern sich nicht viel leisten konnten. Die Dinge haben sich in dieser Hinsicht geändert, aber damals erntete man ein Stirnrunzeln. Ein anderes Beispiel ist meine Reise als junge Frau kreuz und quer durch Indien, die ich ganz allein antrat. Dabei eröffnete sich mir eine komplett neue Welt. Diese Entscheidung gehörte zu den besten, die ich jemals getroffen hatte. Trotz der Prägung durch gesellschaftliche Normen schienen viele derjenigen, denen ich zufällig begegnete, zu meiner Überraschung eher amüsiert als schockiert darüber, dass ein Mädchen unbegleitet umherreiste.

BASIS als Startpunkt

Zurück in Kerala gründeten meine Eltern die Initiative BASIS – die „Bio ­Agriculture and Social Improvement Schemes“. Sie wollten damit das Dorf Sreekandamangalam und seine Umgebung weiterentwickeln und einen gesellschaftlichen Wandel einleiten. Ihr erstes Projekt war ein kostenloser Näh-Workshop für junge Frauen. Durch die Ausbildung sollten sie den Sprung in die Selbstständigkeit schaffen. Der Kurs stieß sofort auf Ablehnung – trotz der hohen Arbeitslosigkeit vor Ort. Es war ein mühsamer Weg und ein jahrelanger Kampf um Akzeptanz, und natürlich gab es auch Drohungen, insbesondere von Brüdern und Ehemännern.

Heute ist BASIS Holidays mit seinem Angebot nachhaltigen Reisens eine der Säulen des BASIS-Programms und trägt wesentlich zu den umweltschutzbezogenen und sozialen Aktivitäten des Dorfes bei. Ein Teil der Einnahmen aus dem Tourismus fließt in Projekte, die nachhaltig den Wohlstand und die wirtschaftliche Unabhängigkeit unterstützen. BASIS fi­nan­ziert auch Ausbildungszentren sowie kleine Unternehmen und spielt damit eine wichtige Rolle dabei, den Lebensstandard im Dorf zu erhöhen.Während BASIS so richtig Schwung aufnahm, machte ich meinen MBA in Touristik und ging danach für elf Jahre nach Bangalore, um dort zu arbeiten und zu leben. Bangalore ist die IT-Hauptstadt Indiens und mit zehn Millionen Einwohnern, Tendenz steigend, die fünftgrößte Stadt des Landes. Dort gründete ich mit meinem Ehemann Sebastian 2011 ein kleines Software-­Unter­nehmen: CATEGIS.

Unser Jahrzehnt in Bangalore war phantastisch, aber ich hatte das Gefühl, es wäre wichtig, auch in Kerala Projekte auf den Weg zu bringen. Ein Großteil der indischen Bevölkerung lebt weiterhin auf dem Land, und es ist wichtig, genau dort etwas gegen die starren Rollenzuweisungen für Frauen zu unternehmen.

slide
THERESA MOOZHIYIL

Frauenrechtlerin

Geburtsort
Gießen
Geburtsdatum
5. Dezember 1982
1989
Rückkehr der Familie nach Indien und Gründung des Dorfentwicklungsprojekts BASIS
1989 – 2006
Schul- und Universitätsausbildung Abschluss: MBA Pondicherry University/Puducherry
2006 – 2013
Head of Finance & Administration am Goethe- Institut in Bangalore
2011
Gründung des Software-Unternehmens CATEGIS

Städtische versus dörfliche Herausforderungen

Bei CATEGIS führten wir einmal ein Einstellungsgespräch mit einer Bewerberin, die sehr den traditionellen Normen verhaftet war. Sie trat übervorsichtig auf, aber fachlich war sie in jeder Hinsicht herausragend. Sie beherrschte ihren Job aus dem Effeff. Wir stellten sie 2012 als Senior Software Developer ein und sie war unsere erste Angestellte. Heute ist sie die Leiterin unserer IT, auch wenn einige unserer männlichen Mitarbeiter ein Problem mit einer weiblichen Chefin haben.

Alles begann mit einem Tisch und einem Stuhl in unserem Haus, und seither hat sich viel getan. Heute besteht unsere Firma aus einem effizienten und harmonischen Team von 25 Mitarbeitern, 60 Prozent davon sind weiblich.

Doch die Herausforderungen in der Stadt unterschieden sich von denen, die es auf dem Land zu meistern galt. In der Großstadt traf ich auch gut ausgebildete und qualifizierte Frauen, die ihren Weg gingen und selbstbewusst auftraten. Und trotzdem beschränkt sich auch heute noch ihre Antwort auf meine Frage nach dem Lebensziel nur auf eine Aussage: „Ich will eine gute Ehefrau und Mutter sein.“ Manche Kämpfe dauern ewig. Ging es im Dorf um die Unterdrückung von Frauen durch archaische Traditionen, so gab und gibt es in der Stadt einen anderen Namen dafür: Geschlechterungerechtigkeit.

Zukunft und Digitalisierung

Die Dinge um uns herum ändern sich auch in Indien mit einer unvorstellbaren Ge­schwindigkeit. Ich zweifle nicht daran, dass die archaischen Traditionen bald überholt sein werden. Indien hat ein Durch­schnittsalter von 27 Jahren. Es ist ein junges Land, das keine Angst davor hat, Normen und Traditionen infrage zu stellen. Und es ist als Land bereit, alles Erforderliche zu tun, um wachstumshemmende gesellschaftliche Hindernisse zu überwinden.

Digitalisierung ist der zentrale Aspekt von CATEGIS, und meine Angestellten haben davon stark profitiert. Digitalisierung hat uns flexible Homeoffice-Lösungen ermöglicht, die unseren weiblichen Mitarbeitern sehr geholfen haben. Bei BASIS nutzen wir die Digitalisierung, um mit der Welt in Kontakt zu treten, für unsere Social-Media-Kommunikation ­sowie für die Online-Verarbeitung von Anfragen und die Reiseberatung.

Wenn es eine Wiedergeburt gibt und ich dabei mit bestimmen kann, dann möchte ich wieder als Frau auf die Welt kommen. Und in Indien!

Enttäuscht, aber niemals hoffnungslos

Natürlich gibt es Tage, die frustrierend und enttäuschend sind, und manchmal rollen auch ein paar Tränen. Aber irgendwie geht es dann wieder weiter, irgendetwas geschieht, das meine Aufmerksamkeit verlangt und mich drängt weiterzumachen.

Es ist mir gelungen, ganz auf meine Art den Funken der Veränderung in mir immer wieder neu zu entfachen. Das wäre ohne meine Eltern nie möglich gewesen. Sie waren immer ein Vorbild für mich – insbesondere meine starke ­Mutter. So lerne ich weiterhin jeden Tag etwas dazu, ganz nach dem Motto meines Vaters: „Nur wer nichts macht, macht keine Fehler.“ Ich bin dankbar, dass ich als Frau auf die Welt gekommen bin. Wenn es eine Wiedergeburt gibt und ich dabei mitbestimmen kann, dann möchte ich wieder als Frau auf die Welt kommen. Und in Indien!

Einwohner hat der
Indische Bundes-
staat Kerala

beträgt die Alpha-
betisierungsrate
in Kerala und ist
damit die höchste
in ganz Indien

ist das Durch-
schnittsalter in
Indien

beträgt der weib-
liche Bevölke
rungsanteil in Indien
Meine Eltern setzen sich bis heute für ihre vielen gesellschaftlichen Ideen ein.