Atemlose Stille

Alessia Zecchini liebt das Meer und die Tiefe. Aber heute ist der Mistral zu kalt und zu stürmisch, um im ­aufgewühlten Mittelmeer vor Cap Ferrat trainieren zu gehen. Doch es ist nicht zu kalt, um mehr über ihre ­Leidenschaft zu erfahren. Denn die junge Römerin zählt zur weltweiten Spitze im Apnoetauchen. Und ist auch 2018 beim Tauchen mit nur einem Atemzug weiter auf Rekordjagd.

Auch ich habe eine Vergangenheit als Apnoetaucher, und so entsteht dank dieser gemeinsamen Leidenschaft sofort eine besondere Stimmung bei unserem Gespräch am Strand der Côte d‘Azur. Alessia erinnert sich noch genau an den Tag, der ihr Leben veränderte: „Ich tauche bereits, seit ich ungefähr sechs Jahre alt war. Um das Schwimmabzeichen zu erhalten, musste ich damals ein 25-Meter-Becken frei durchtauchen. Dabei hat es gefunkt.“

Es war der Startschuss für ihre große Leidenschaft: Jeden Sommer fährt sie mit ihren Eltern ans Meer, verbringt viele Stunden im Wasser, übt Ausgleichstechniken. Irgendwann ist alles ein Kinderspiel: Mit 13 Jahren erfährt sie von einem Apnoekurs, meldet sich an und beginnt, ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Woher kommt diese Leidenschaft? „Apnoetauchen ist für mich eine faszinierende Weise, in intimen Kontakt mit der Natur zu treten und sich selbst tief im Inneren kennenzulernen.“ Diese Art des Tauchens heißt für sie nicht einfach nur, die Luft anzu­halten. Mut, klarer Verstand und das Bewusstsein für die Risiken müssen zusammenkommen. Es heißt, den eigenen Körper zu kennen, zu wissen, wie er am besten funktioniert, die Muskulatur zu kontrollieren.

Und es heißt auch, Ängste zu überwinden und Gedanken zu lenken, um sich eine Parallelwelt der Stille und Konzentration zu schaffen. In erster Linie ist Apnoetauchen ein Kampf mit sich selbst. Die eigenen Grenzen zu kennen, versuchen, sie zu überschreiten, über sie hinaus zu gehen und zu gewinnen.


Aufwärmübungen vor dem Tauchgang:
Höchste Konzentration ist die Voraus­setzung für neue Rekordversuche.

ALESSIA ZECCHINI

Apnoesportlerin

Geburtsort
Rom
Geburtsdatum
30. Juni 1992
Beruf
Professionelle Apnoetaucherin
Größe
173 cm
Aktuelle
Weltrekorde
104 m Constant Weight (AIDA)
250 m Dynamic With Fins (CMAS)

2013 der erste Weltrekord

Mit gerade einmal 18 Jahren ist Alessia bereit für ambitioniertere Ziele. Sie trainiert jeden Tag, legt Kilometer über und unter dem Wasser zurück, absolviert Fitnesseinheiten – und ihre Disziplin zahlt sich aus: 2009 die Qualifikation für die italienische Meisterschaft, 2011 der zweite Platz und 2012 die Aufnahme in die italienische National­mannschaft. Apnoetauchen wird international als Wettkampf­sport mit einem anerkannten Regel­werk ­ausgeübt. 2013 zieht sich Alessia ohne Flossen oder andere Hilfsmittel 81 Meter an einem Seil in die Tiefe und stellt damit in der Disziplin Free Immersion einen neuen Weltrekord des internationalen Tauchsportverbands CMAS auf. Wie kann man sich diese Art des Abtauchens vorstellen? „Ich verlasse die Wasseroberfläche, sobald ich mithilfe der sogenannten ,Karpfen‘-Atemtechnik so viel Luft wie möglich eingeatmet habe.“ Dann taucht Alessia in die Tiefe, wird ganz ruhig. Während das Licht zunehmend verschwindet und es um sie herum dunkel wird, verlangsamt sich auch ihr Herzschlag. Mit dem Sinken der Wassertemperatur steigt ihre Konzentration. Angst hat hier keinen Platz, sie ist dem Mut gewichen und an der Wasseroberfläche zurückgeblieben.

Beim Apnoetauchen lernt man, dass man mit seinen Gedanken alles schaffen und steuern kann.

Konzentration ist alles

Jede Vorbereitung auf einen neuen Rekord ist mühsam: Gut einen Monat lang taucht Alessia an der gleichen Stelle immer tiefer, stets aufs Neue. Ein Seil dient der Orientierung, an ihm ist, tief unter der Wasseroberfläche, ein kleines Schild befestigt – der Nachweis für den Rekord. So wie im Oktober 2017, als Alessia vor der Küste der Bahamas-Insel Long Island drei Minuten dreißig tauchte und mit 104 Metern einen neuen Weltrekord in der Apnoe-Disziplin Constant Weight aufstellte, dem ­Tieftauchen mit konstantem Gewicht und Flossen.

Auf die Frage nach ihrem Erfolgsgeheimnis antwortet sie: „Konzentration ist alles. Durch das jahre­lange Training gelingt es mir, einen mentalen Zustand ohne Angst oder Stress zu erlangen. Mir hilft es dabei sehr, mir den Tauchgang kurz vorher vor Augen zu führen. Ich stelle mir die Hyperventilation vor, das Abtauchen, wie ich das Schild erreiche, wieder aufsteige und sogar das Glücksgefühl und den Beifall der Anwesenden, wenn ich an die Wasser­oberfläche zurückkehre. Kommt es nicht zu Schwierigkeiten, verläuft in der Realität alles so wie in meiner Vorstellung.“ Ich bitte sie, nochmals auf Angst und Mut zurück­zu­kom­men – für die meisten Menschen sei es schwer vorstellbar, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist. „Vielleicht liegt es daran, dass ich schon von klein auf tauche, aber ich empfinde dabei tatsächlich keine Angst oder sonstiges Unbehagen. Im Gegenteil!“ Mut oder Leichtsinn? Dazwischen gibt es einen feinen Unterschied: Mut ist notwendig, um ein Wagnis sicher zu meistern. Leichtsinn ist, wenn für das Wagnis nicht die erforderli­chen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden.

Warmes Wasser gesucht

Für das Apnoetauchen spielt selbstverständlich auch der Ort eine Rolle. „Meine Lieblingsorte? Überall, wo es warm ist, natürlich! Ich bin zum Beispiel oft in Dahab in Ägypten. Ich komme gut mit den Einheimischen zurecht, das Riff ist fantastisch und das Blue Hole ist für mich der ideale Platz zum Trainieren. Gerade komme ich von den Malediven zurück. Auch dort herrschen optimale Bedingungen für meine Disziplin: warmes Wasser, auch in der Tiefe, kaum harte Temperatur­übergänge, eine vielfältige Unterwasserwelt zum Beobachten, Fische und sogar Haie, klares Wasser und besondere Lichtverhältnisse. Bis vor einigen Jahren habe ich hauptsächlich im Mittelmeer trainiert, was es mir ermöglicht hat, überall anzutreten. Dann habe ich die warmen tropischen Gewässer für mich entdeckt, wodurch Wettkämpfe im Mittelmeer deutlich mühsamer wurden.“

Wie im Rausch

Ich frage sie, wann sie die stärksten Emotionen beim Tauchen empfunden hat. Bestimmt, als sie vor wenigen Monaten die 104-Meter-Marke ­ge- knackt hatte. Als sie das Schild erreichte, trotz der Taubheit, die einen in dieser Tiefe trifft. Dieses Gefühl von einem Rausch, teils aufgrund des Drucks und teils aufgrund des Stickstoffs im Gewebe, vergisst man nicht. „Ja, meine Glücksgefühle und Emotionen waren unglaublich. Auch weil ich wusste, dass ich meine japanische Konkurrentin um einen Meter geschlagen und einen neuen Weltrekord aufgestellt hatte!“

Konzentration ist alles. Durch das jahrelange Training gelingt es mir, einen mentalen Zustand ohne Angst oder Stress zu erlangen.

Wir haben noch nicht über die Ausrüstung gesprochen. Wie wichtig ist sie? „Es ist enorm wichtig, bestens ausgerüstet zu sein. Flossen, Tauchmaske, Brille und die Sicherheitsschnur müssen zuverlässig, bequem und leistungs­fähig sein – ohne Kompromisse. Ich benutze deshalb ausschließlich die Ausrüstung eines Herstellers, der gleichzeitig mein Sponsor ist.“

Alessia erzählt mir noch, dass Free Immersion ihre derzeitige Lieblingsdisziplin ist. Dabei wird ohne Maske und Flosse nur mit Nasenklammer getaucht und die Sicherheitsschnur ist zwischen Taille und Führungsseil befestigt. Beim Ab- und wieder Auftauchen zieht sich der Taucher am Führungsseil nach unten und wieder nach oben und ist dabei ganz frei. Der Rekord liegt aktuell bei 92 Metern, im Training letzten Sommer hat Alessia bereits 90 Meter geschafft. Auf die Frage, welche Tiefe oder Distanz sie in dieser und in weiteren Apnoe-Disziplinen noch erreichen möchte, schweigt sie taktisch klug und schaut lieber aufs Meer hinaus. Die Konkurrenz soll schließlich nicht zu viel erfahren.